Tango verläuft in Wellen. Ist immer in Wellen verlaufen. Es gab Jahre da wurde er gemieden, dann wurde er gefeiert, schließlich wieder gemieden und für tot erklärt. Und irgendwann kam er wieder. Mit neuen Ideen. Er wurde neu erfunden und neu interpretiert. Dann kam die Rückwende. Und dann kam Corona. Was passiert mit dem Tango in der Zukunft? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass nach einem Telefonat das ich vor ein paar Tagen führte jetzt die Nachricht offiziell ist: dni schließt. Dni? Die Schule wo ich vieles gelernt habe. Und das wird wohl nicht die erste und auch nicht die letzte Schule oder Milonga gewesen sein die Konsequenzen zieht – sich zurückzieht, zurückziehen muss. In Argentinien sind die Umstände wesentlich extremer als in unserem Land. Es gibt wesentlich weniger Krankheitsfälle als hier. Trotzdem dürfen die Menschen ihre Wohnung oder ihr Haus seit der gleichen Zeit mit der bei uns der Shut-Down anfing nicht verlassen. Die Lockerungen sind langsamer und geringer. Bisher sah es so aus als ob Tango nur die Luft anhält. Jetzt drängt sich der Tod in den Vordergrund. Und ob er jemals – in absehbarer Zeit – wiederbelebt werden kann ist eine wirklich berechtigte Frage. In Argentinien kommt der Winter. Die Jahreszeit in der Viruserkrankungen groß werden. Was passiert in dieser Jahreszeit? Traditionell die Jahreszeit in der weniger Touristen auf den Milongas sind. In der sich die Argentinier viel mehr unter sich bewegen können. Natürlich sinken auch die Einnahmen. Doch jetzt gibt es gar keine. Große Hilfen und Konjunkturprogramme kann sich der Staat vielfach nicht leisten. Und ein Ende ist nicht absehbar. Es gibt Gerüchte dass in 2 Monaten die Flughäfen öffnen. Doch was ist mit Tango? Dni ist eine Schule die meist 12-16 Lehrer hat. Hatte muss ich sagen. Ein Haus mit einem kleinen Restaurant, einem Shop, einer Bar und 4 Unterrichtsräumen. Es ist auch noch ein zweiter Shop ein paar Straßen weiter vorhanden.

Ich kann es mir so schlecht vorstellen dass das, wo ich die letzten Jahre meine Zeit tagsüber in Buenos Aires verbracht habe, nicht mehr existiert. Ob es wieder aufwachen wird wenn es wieder weitergeht … Es hört sich im Moment nicht so an. Der Tanz der dort weitergelebt wurde, weiterentwickelt, geliebt und Freiheiten feierte. Viele Orte sind bedroht. Es gibt keine großen Hilfen von einem Staat der selbst Nichts hat. Eine Nation die am Tropf des Geldes hängt. Vielfach verschuldet gegenüber den USA. Eine Nation die von einer Krise in die nächste treibt. In diesem Milieu hat sich der Tango entwickelt. Melancholisch, eng umschlungen um etwas Sicherheit und Geborgenheit in dieser sich wandelnden Welt zu bieten. Und das wird den Menschen jetzt genommen. Die letzte Zuflucht die es immer gab wenn die Nation es brauchte. In manchen Zeiten der Krise war er da. In anderen Zeiten der Krise wurde er nicht gefunden. In der jetzigen Krise wird er verboten. Der Tanz als solches wird nicht verboten. Nur sein Herz. Der Kontakt. Der Tanz mit vielen unterschiedlichen Menschen. Wenn ich mir die aktuellen Hamburger Regeln für Tanzen in geschlossenen Räumen durchlese, würde die Anzahl der Menschen die normalerweise auf einer gut gefüllten Milonga Platz finden mittlerweile die Fläche eines Fußballfeldes benötigen um tanzen zu dürfen.

Wir in den reichen Industrienationen, auch hier gibt es das Tangosterben. Das Milongasterben. Die ersten sind so weit dass sie vielleicht nicht wieder eröffnen können. Die aktuellen Mieten müssen bezahlt werden. Vermieter haben hier wenig Verständnis für den Wegfall der Geschäftsgrundlage eines Mieters. Manche stehen besser da und erhalten Beihilfen. Es ist ein Flickenteppich in Deutschland, sowohl bei den Bestimmungen wie bei den Beihilfen. Es gibt sie auch hier: die Milongabetreiber die auf absehbare Zeit ihre Räume anderweitig vermieten müssen. Die Schulen die viel Aufwand treiben um den aktuellen Vorschriften entsprechend zu unterrichten und zu denen unter diesen Umständen aufgrund der vorhandenen Angst trotzdem nur wenige kommen. Die freiberuflichen Tangolehrer die ihrer Arbeit beraubt sind. Die Menschen die Tango getanzt haben und ihn vermissen. Die Menschen die Tango getanzt haben und sich anderen Interessen zugewandt haben.

Welchen Weg wird diese Kultur, dieses auch als Weltkulturerbe eingestufte Gespräch zweier Menschen in Zukunft nehmen? Gibt es eine Chance in der Krise neue Wege zu gehen? Einfach den gleichen Unterricht nur online auf Videos aufzunehmen? Das ist keine dauerhafte Lösung. Es braucht andere Wege. Wege in die Herzen der Menschen. Um ihnen die Essenz des Tangos weiterzugeben. Und diese Essenz ist für jeden eine andere. Mal ist es die Nähe zu einem bekannten oder fremden Menschen. Und vielleicht ist das nur ein Symbol für die Nähe zu sich selbst? Für manche war es die oberflächlich betrachtete klare Rollenverteilung im Tango. Der Mann führt die Frau folgt. Im „wahren“ Leben: der Mann hat den guten Job und bringt das Geld nach Hause. Die Frau verdient meist weniger – und ist daher auch unwichtiger. Doch in dieser Zeit werden die Jobs der schlecht verdienenden Krankenschwestern, Pflegerinnen und Verkäuferinnen auf einmal als systemrelevant erkannt, wohingegen die Jobs ihrer Ehemänner gar nicht mehr erwähnt werden. Ebenso ist die Rolle der Frau, die in einem schönen Kleid dem Tanz doch „nur“ das Aussehen gibt und „nur“ das umsetzt was der Mann führt. Dabei: was ist ein Mann ohne den Part der Folgenden? Man stelle sich einen Mann alleine tanzend vor, in Schwarz gekleidet mit möglichst minimalen Bewegungen. Es wäre langweilig und lächerlich. Das Gegenteil dieses Minimaltänzers, ein Mann der in bunter Kleidung und auch mit seinen Bewegungen die Frau überstrahlt ist die Alternative? Nein weil er dann auch alleine tanzen können. Es ist eine Rollenverteilung. Das Paar glänzt durch die exquisiten und feinen Bewegungen der „folgenden“ Person, die auch oft ihre eigenen Idenn einbringen darf und können sollte. Der Mann ist im Hintergrund, hält aber eine Hand als Stütze für die Bewegungen. Eine Interpretation des klassischen Tangos. Eine Zusammenarbeit.

Und der heutige Tango? Der Weg den der Tango in den letzten Jahren und Monaten in Buenos Aires ging war einer in die Extreme. In die konservative und gleichzeitig in die offene und revolutionäre Richtung. Für und von Menschen mit eigenen Meinungen. Doch das ist derzeit nicht gefragt. Der Austausch der Meinungen, die Diskussion ist verboten – im Tango. Das strahlt auch in die reale Welt hinaus. Denkende Menschen die Entscheidungen hinterfragen, andere Meinungen anhören und eigene Ideen entwickeln sind nicht gefragt. Und das Verbot der Nähe ist auch ein Verbot zur Nähe der Welt eines anderen. Eine Isolation der Menschen ohne Gleichen ist der Weg den wir hier gerade gehen. Er kann ein Weg zu uns selbst werden. Der uns auch viel weiter bringen kann als wir es für möglich halten. Und der vielleicht am Ende mehr mündige Bürger haben wird als vorher. Eine Idealvorstellung für die wir alle die Verantwortung tragen dass sie Wirklichkeit wird. Lasst sie uns wahr werden lassen.