Cabeceo? Das mit dem Augenkontakt, was bei schlechtem Licht, auf weite Entfernung oder für manche ohne Brille nicht funktioniert? Ein Auffordern über einen Blick, als wenn man keinen Mund zum Sprechen hat?
Ich gebe zu: ich mag den Cabeceo, aus unterschiedlichen Gründen. Für manche ist es ein Relikt aus einer anderen, vielleicht vergangenen oder überholten Zeit. Für mich gehört er zum Tango. Er dient dazu, andere Menschen und ihre Grenzen zu respektieren, so wie es im Tango und im Leben immer der Fall sein sollte.
Vielleicht beschreibe ich Cabeceo einmal wie ich ihn erlebe. Mit dieser Form der ersten Kontaktaufnahme verabreden sich zwei Menschen zusammen zu tanzen, in diesem Falle Tango. Der eine Tanzpartner sucht den Blick des anderen Tanzpartners. Wenn sich die beiden Blicke treffen, wird über ein Nicken oder ähnliches Zeichen von beiden Seiten bestätigt, dass sie zusammen tanzen möchten. Der eine Tanzpartner holt den anderen an dessen Platz ab – möglichst mit Halten des Blickkontaktes während des Weges. Sobald dies geschehen ist, gehen sie gemeinsam zur Tanzfläche. Alternativ können sich auch beide nach dem Blickkontakt auf der Tanzfläche treffen. Dies kann zu Problemen führen, wenn einer der beiden Tanzpartner in einer Reihe mit anderen (potentiellen) Tanzpartnern sitzt und mehrere den Blick auf sich bezogen haben. In dem Falle können sich dementsprechend auch mehrere angesprochen fühlen, was nur aufgelöst werden kann, wenn der eine Tanzpartner den anderen Tanzpartner vom Platz abholt und dieser wiederum sitzen bleibt bis er/sie abgeholt wird. Zugegebenermaßen, das ist nicht jedermanns Sache und führt ab und zu zu peinliches Situationen für alle Beteiligten, weil auf einmal der falsche Tanzpartner aufsteht oder gleich mehrere. Eine gängige Lösung für dieses Problem ist, dass dann nach und nach mit allen Partnern getanzt wird, die sich angesprochen gefühlt haben.
Klingt umständlich und überholt oder?
Auf der einen Seite schon, doch wenn alles funktioniert, verhindert genau dies, dass jemand einen aktiven Korb bekommt – oder was aus meiner Sicht viel wichtiger ist, einen vergeben muss.
Doch was passiert oft in der Realität auf der Milonga?
Die Möglichkeiten der Aufforderung, wie sie auf einer Milonga bestehen, unterscheiden sich nach der Position der potentiellen Tanzpartner im Raum und nach der Art der Kontaktaufnahme.
Die Position kann passiv oder aktiv sein. Passiv bin ich, wenn ich z.B. in ein Gespräch vertieft bin und nur ab und zu einen Blick schweifen lasse. Aktiv wenn ich an einem neuralgischen Punkt stehe oder sitze. Manche bevorzugen auch die Variante durch den Raum zu gehen. Meine Position sollte im möglichen Blickfeld des Wunschtanzpartners sein. Befinde ich mich nicht im Blickfeld, gibt es auch keinen Cabeceo. Ein wichtiger Punkt ist also, mich in das Blickfeld der Person zu begeben. Und hier ist etwas Vorsicht walten zu lassen. Blickfeld bedeutet, ich bin ein Ausschnitt im weiten Blickfeld des (potentiellen) Tanzpartners. Und der Partner hat die Möglichkeit der Ablehnung, was nur durch „wegschauen“ passieren kann. Wenn ich das gesamte Blickfeld der anderen Person einnehme weil ich so nahe bin, ist ein Wegschauen quasi nicht möglich.
Entwicklungsgeschichtlich gesehen ist der Mensch kein Tier das angreift, sondern eher flieht oder sich totstellt. Er hat keine Werkzeuge zum Angriff und auch keinen Panzer, um Angriffe abzuwehren. Daher ist Flucht die effektivste Variante. Wird nun der Fluchtweg abgeschnitten, dadurch dass jemand sich vor einem anderen aufbaut – gerät das System des „Opfers“ in Alarmstimmung. Und diese Stimmung wirkt sich oft auch auf den Tanz aus. Manchmal ist einfach unerklärlich, warum es mit manchen Menschen gut klappt beim Tango und manchmal nicht. Diese Stimmung kann ein Faktor sein, der das beeinflusst.
Die Idee der Kombination Cabeceo/Mirada (der antwortende Blick) bietet auch die Möglichkeit, eine Ablehnung zuzulassen.
Dann doch besser direkt ansprechen? Hier kommt zu dem bereits geschilderten Verhalten des verhinderten Fluchtreflexes noch das Phänomen hinzu, dass manche Menschen nicht „Nein“ zu etwas sagen können. Das bedeutet auch, wenn manche gerne auf die Frage: „Möchtest Du tanzen?“ vielleicht gerne sagen würden: „Ja gerne, aber im Moment nicht“ tun sie es meist nicht.
Eine Steigerung der Aufforderung durch eine Frage ist das Antippen auf die Schulter oder eine andere unmittelbare körperliche Kontaktaufnahme, um die Aufmerksamkeit zu erregen. Hier kommt zusätzlich noch ein Eindringen in den persönlichen Raum eines anderen Menschen hinzu ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, sowie ein zusätzlicher Schreck durch einen unerwarteten Körperkontakt.
Der Cabeceo ist darauf ausgelegt, keine direkte Frage zu stellen. Wenn der erste Blickkontakt nicht zustande kommt, wurde keine Frage gestellt, aber es ist klar dass der/die andere nicht tanzen möchte. Es ist immer davon auszugehen, dass das nicht zustande kommen des Blickkontaktes Absicht ist desjenigen der nicht schaut – und einfach nicht tanzen möchte, jetzt, mit mir. Prüft einmal euer Sichtfeld mit folgendem Experiment. Lasst euren Blick einmal schweifen, dann fixiert ein Objekt und „schaut“ peripher: untersucht also was ihr außerhalb dessen, was ihr unmittelbar anschaut und im Zentrum eures Blickfeldes scharf seht, noch erkennen könnt. Es ist viel mehr als den meisten Menschen bewusst ist. Besonders Bewegungen, aber auch Silhouetten von Menschen können gut wahrgenommen und interpretiert werden. Also auch ob jemand anderer in die Richtung von einem selbst schaut, um vielleicht zu prüfen ob ihr zusammen eine Tanda tanzen wollt.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen für alle diese „Regeln“. Zum Beispiel Menschen mit Sehschwäche müssen sich auf andere Möglichkeiten einlassen.
Gibt es andere Ausnahmen? Nein gibt es nicht. Auch wenn einige Tänzer (egal welches Niveau) der Meinung sind. Es gibt sie überall: diejenigen die durch versperren des Blickes, eine verbale Aufforderung oder einen Körperkontakt auffordern. Manchmal artet das sogar in ein einfaches Nehmen der Hand einer beliebigen Person und bugsieren auf die Tanzfläche aus. Freier Wille der anderen Person? „Der/die will bestimmt (mit mir) tanzen.“
Bei einem freundschaftlichen Verhältnis mag ein anderer Umgang möglich sein, doch auch hier versuche ich immer den Rahmen der Ablehnung zu ermöglichen.
Die auffordernde Person handelt beim aktiven Auffordern aus einer Position der Stärke, des aktiven Auswählens. Nutzt er/sie etwas anderes als einen Cabeceo, wie oben beschrieben, kann es eine Demonstration der Macht gegenüber anderen Menschen sein. Menschen die sich so verhalten, sind aus meiner Erfahrung meist dominant – zumindest in der Tangowelt. Ob sie das in der „richtigen“ Welt auch oder vielleicht auch nicht sind, kann sehr unterschiedlich sein.
Der Cabeceo kann dafür genutzt werden, das Geheimnisvolle des Tangos zu behalten. Denn es ist für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar, wer sich wann mit wem verabredet. Warum gerade diese zwei auf einmal aufstehen und zum Tanzen treffen. Und das ist doch schön. Denn Tango ist ein Geheimnis das auf der einen Seite gewahrt aber auch gleichzeitig gelüftet werden möchte.
Tango funktioniert meiner Meinung nach durch sensible Rücksichtnahme auf das Gegenüber, durch geben und nehmen. Ich finde es wichtig, gegebenenfalls den Mut aufzubringen, auch NEIN zu sagen. Den Cabeceo finde ich sehr schön und das perfekte Instrument zum Auffordern zum nächsten Tanz, aber man wird manche Menschen nicht davon abhalten können, andere Mittel und Wege des Aufforderns zu bevorzugen.