Eine Liebeserklärung an Buenos Aires
Buenos Aires als Stadt ist nicht die größte Stadt der Welt. Mit ihren 15Mio Einwohnern die zweitgrößte Südamerikas nach Sao Paulo (21Mio) und in der Liste der größten Städte der Welt auf Platz 13. Ob die Zahl 13, die viele Menschen als “Unglückszahl” sehen, etwas mit den ständigen Krisen des Landes zu tun hat, weiß ich nicht. Größer als jede europäische Stadt ist Buenos Aires auf jeden Fall. Bezeichnenderweise taucht als erste europäische Stadt Istanbul auf Platz 15 und dann Moskau auf Platz 22. Paris folgt auf Platz 25. In Europa herrscht mehr Zersiedelung.
Was ich von Buenos Aires, in den über die Jahre zusammengenommenen mittlerweile ca 365 Tage die ich hier verbracht habe, gesehen habe ist wenig, extrem wenig im Vergleich zu der schieren Größe die diese Stadt hat. Dass ich diese Stadt kenne kann ich nicht behaupten. Ein paar wenige Straßen und Stadtteile. Ein paar Menschen. Ein paar Milongas und Tangostudios. Des Tangos wegen bin ich hierher gekommen.
Und doch ziehst Du, ja ich spreche Dich an mi Buenos Aire querido Video Carlos Gardel – Mi Buenos Aires querido , mich so wie viele andere auch einfach so in Deinen Bann. Mit all Deiner Unvollkommenheit, dem Dreck, Lärm und Gestank. All den kleinen Provisorien die Dich am Leben erhalten. Und all dem sprühenden Leben. Nirgends gibt es einen Platz wo ich alleine bin. Immer sind irgendwo Menschen. Denn wenn mal keine Menschen da sind, sollte ich vorsichtig sein. Die Inflation ist deutlich spürbar, oder auch als horrend für europäische Verhältnisse zu bezeichnen. Jedesmal wenn ich mal ein paar Monate dort verweilte hatte sich der Wechselkurs vom Anfang meines Aufenthaltes zum Ende hin erheblich geändert, der argentinische Peso hatte mal wieder an Wert verlogen. Ob das die Politik des Landes oder die anderer Länder verursacht … hierüber erlaube ich mir kein Urteil.
Meine Zeit verbringe ich hauptsächlich mit viel Tango und netten Menschen – auch meist Tangotänzern. Eine Freundin die vor Jahren einmal hier war meinte zu mir: „Es war unerträglich, immer diese Taxis mit ihren kaputten Stoßdämpfern die über das Kopfsteinpflaster ratterten.“ Eine andere riet mir nicht länger als 2 Monate einzuplanen, weil „man“ das nicht aushalten würde. Menschen haben unterschiedliche Meinungen und Geschmäcker. Und das ist gut so.
Buenos Aires architektonisch gesehen, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Wühlkiste aus Legosteinen. Es ist ein Sammelsurium aus unterschiedlichsten Häusern, Baustilen, Wohn-, Büro- und Funktionsbauten. Neben kleinen und alten, oft baufälligen Häusern, steht vielleicht ein 15stöckiger Wohnblock aus Beton. Anschließen kann sich ein mickriges kleines Haus in Form einer Garage das als Gemüseladen fungiert, ein Herrenhaus im europäischen Stil der 1920er Jahre, eine Kirche, Einkaufszentrum oder Bürogebäude in die Reihe einfügen. Überall ist immer Verkehr und Menschen laufen die Straße entlang. Und dieser Verkehr herrscht 24h, keine ruhige Minute ist an den großen Straßen zu erhaschen.
Was ist es also was Dich so liebenswert macht? Nur der Tango? Ohne Tango würde es mir schwer fallen hierher zu fahren, für Monate, sein wir ehrlich. Doch der Tango passt und gehört hierher. Er wurde hier groß, verändert sich hier, genauso wie die Stadt sich jedesmal anders gibt und doch immer gleich bleibt. Die Grundstruktur, die Quadrate von ca. 100x100m, bleibt gleich. Doch die Bebauung ändert sich. Wie der Tango: die Grundstruktur, das Paar das tanzt, bleibt gleich. Doch die Form ändert sich ständig. Nicht nur während des Tanzes, auch über die Jahre.
Buenos Aires ist eine Stadt der Provisorien. Bürgersteige werden provisorisch geflickt nachdem sie aufgestemmt wurden. Es fahren Menschen mit provisorischen Kühlboxen (Kisten die mit Styropor ummantelt sind) durch die Gegend und verkaufen Eis oder Getränke. Die interessanteste Konstruktion die ich hierbei bisher gesehen habe war eine komplett ummantelte Mülltonne mit 2 Rädern. Viel Platz für Ware und ein praktischer Klappdeckel.
Häuser die baubedingt oft keine Seitenfenster haben, werden nachträglich mit Fenstern unterschiedlicher Größe und Form versehen und sehen somit oft etwas seltsam aus. Einmal habe ich mitten auf der Straße einen Sessel gesehen. Er ersetzte einen fehlenden Gullideckel und sollte so verhindern, dass jemand hineinfällt.
Die Menschen hier sind erfinderisch, etwas melancholisch und haben Zeit und Ruhe, trotz all der Unwägbarkeiten. Wenn ich in Deutschland an einer Kasse im Supermarkt stehe dauert eine Schlange von 5 Personen max. 5 Minuten. Vor ein paar Wochen wollte ich „noch kurz“ vor dem Tangounterricht etwas im Supermarkt einkaufen. Die Schlange von 5 Personen reduzierte sich innerhalb von 20min auf 4 Personen… noch auf europäische Zeit gepolt brachte ich meine Ware zurück und bin ohne Einkäufe abgezogen. Ich muss dazu sagen, dass ich das normalerweise durchaus “aushalte” nur in diesem Fall ausnahmsweise einmal nicht. Wenn ich längere Zeit hier bin wird aus dem “Aushalten” ein Akzeptieren, dann ein Genießen und zum Schluss ein “Ist was?”.
Tango ist etwas, das sich vielleicht nur hier so entwickeln konnte. Er entstand, wurde groß und verändert sich laufend. Je nachdem wie die Politik das Land verändert oder die wirtschaftliche Lage ist, verändert sich auch der Tango. In Zeiten der Rezession wird er konservativer, weil Sicherheit in alten Werten gesucht wird. In Zeiten des vermeintlichen Wohlstandes wird er offener. Im Moment geht es in beide Richtungen, vielleicht ist das ein gutes Zeichen.
Ich bleibe wachsam und Dir, meiner Stadt der Wahrheit die sich in diesem Tanz so gut ausdrückt, verbunden.
Bleib so wie Du bist: in ständiger Veränderung.